Bald konnte ich schon das Geräusch von Autos hören. Ich war also wirklich nahe an der gesuchten Straße. Aber wo genau die Straße war, das wusste ich noch nicht. Ich kam an ein Haus, wo ein Mann gerade hoch oben auf einer Leiter stand. Ich fragte ihn mit meinem Spruch: "Wo ist die Turkestan-Straße, bitte?" Auf Russisch natürlich. - Und er stieg herab, um freundlich Rat und Auskunft zu geben dem reisenden Fremden.

Diese Geschichte ist noch nicht zu Ende.
Ich werde versuchen, sie aus dem Gedächtnis weiter zu erzählen.

Es war ein kluger Mann, der da herabstieg, um freundlich Rat und Auskunft zu geben dem reisenden Fremden.

Und er fragte freundlich, welche Hausnummer das gesuchte Haus denn habe?
Diese Zahl aber überstieg meine Russisch-Kenntnisse.

Ich versuchte, die Zahl per Handzeichen darzustellen.
Der kluge Mann jedoch hatte ein bessere Idee.

Der kluge Mann gab mir einen Zweig von einem Baum oder kleinen Ast, womit ich dann die Hausnummer in den Erd-Boden ritzen konnte!

Der kluge Mann betrachtete die dreistellige Hausnummer.
Und dann deutete er auf eine Straße in der Nahe seines Hauses, und gab auch an, in welche Richtung ich dort gehen sollte.

Ich ging um sein Haus herum und auf die angezeigte Straße und dort in der richtigen Richtung weiter.
Der Mann ging mit mit und zeigte an auf eine Tafel an seinem Haus, auf der anderen Seite, die man nun erst sehen konnte.

Und dort stand es groß und breit und deutlich in kyrillischen Buchstaben, so dass auch ich es gut zu lesen vermochte: Uliza Turkestanskaja!
Also: Turkestan-Straße.

Das Haus jenes klugen Mannes war ein Eckhaus und gehörte schon zur Turkestan-Straße.
So war es natürlich sinnvoll, dass er mich nach der Nummer gefragt hatte.

Ich selber hatte zuerst gedacht: "Warum fragt er denn nach der Nummer? Das ist doch erstmal nicht so wichtig. Er soll mir doch erst mal sagen, wo die Turkestan-Straße überhaupt ist, das Weitere wird sich dann schon finden ...."

Und weiter dachte ich: Was für ein freundlicher und kluger Mann! Wollen wir hoffen, dass, wenn ein Russe sich in Deutschland nachts im Walde ver-irrt und um Mitternacht im Wald mit fragendem Lächeln sagt: "Frankfurter Straße?" - dass man ihm dann auch so freundlich hilft!

Und nun zum Happy Ending:

Ich ging nur wenige Schritte auf der wiedergefundenen Straße, da traf ich schon meine nette Gastgeberin an.
Sie wollte mir schon entgegenkommen und mich suchen.
Sie war in großer Sorge um mich gewesen!
Und ihre Familie zuhause hatte ihr schon schwere Vorwürfe gemacht!
Wie konnte sie auch nur!
Einen Ausländer an seinem ersten Abend nachts in die un-endlichen russischen Wälder entlassen!
Mutterseelenallein!
Da musste ein Ausländer sich doch verirren!
Und womöglich als Rotkäppchen einem Wolf zum Opfer fallen!
So meinte ihre Familie.

Doch ich war keinem Wolf zum Opfer gefallen.
Mit meinen sehr bescheidenen Russisch-Kenntnissen hatte ich mich wieder zur richtigen Straße durchgefragt, und nachts im Walde viele freundliche Russen getroffen.
Auch ein schöner Beginn meiner Zeit dort!

Und so gingen wir gemeinsam zurück zum richtigen Hause der Turkestanstraße, wo der Tisch schon reichlich gedeckt war mit Speis und Trank zum Willkommensmahl für den Gast, der da aus weiter Ferne angereist und angeflogen gekommen war.

Und es war der Freude und des Frohlockens kein Ende.

Und dieses war der erste Tag.

до свидания!

Auf Wiedersehen!

Ja, so war das damals ...
In Russland im Jahre 2011

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