Wenn man unter Stress ist, kann man doch eher alles andere, als klar zu denken - Aber, man hört, man könne in stressigen Situationen, etwa, wenn man unter Zeitdruck ist, am ehesten klar denken, oder fallen einem Sachen doch noch ein, etwa im letzten Moment - Kann das denn etwa sein?

Was meint ihr? Und, wie ergeht es euch dabei?

Also bei normalen Stress-Situationen kann ich eher nicht gut denken. Normale Stresssituationen sind ja solche wie z.B. Ich habe einen Termin, der wichtig ist,wollte pünktlich losgehen, komm aber erst fünf Minuten später los. Oder Es steht eine Prüfung an und ich muss bis zum nächsten Tag noch ein Viertel des Stoffes pauken.
Vielleicht sind mit den Stress-Situationen auch die Notfallsituationen gemeint, die absolute Gegenwärtigkeit verlangen.
Ich war mal in einer Tagespflege beschäftigt. Meine lieben Kollegen hatten sich alle im großen Raum zu den Gästen gesetzt,weil auch da die Leute teilweise Unterstützung beim Essen gebraucht haben. Ok, mir wurden zwei Leute zugewiesen,denen ich das Essen reichen sollte. Auf einmal begann im Nebenzimmer eine Frau zu husten, weil sie sich verschluckt hatte. Ich horchte kurz, ob jemand von den Mitarbeitenden im Nebenzimmer war. Da ich keinen vernahm, ging ich zu der Frau und half ihr.
Oder letztes Jahr bei Yogibär. Er hatte auf einmal nachts einen heftigen Erstickungsanfall. Im theoretischen Moment überlegt man sich, mhmm trau ich mir das zu oder nicht. Aber im praktischen habe ich ihm sofort das Inhalationsgerät gereicht und ihm eine halbe Stunde Inhalation gegeben.

Ich denke, das beruht auf einer Täuschung. Man kann nicht konzentrierter denken, sondern man tut es, einfach weil die Stresssituation es erfordert. Man sagt ja auch nicht, dass die Augen bei Dunkelheit besser sehen als im Licht; sie werden eben nur stärker beansprucht und richten sich in erhöhtem Maße auf die lichtarme Umgebung ein.

Felicitas, Deine schönen echt erlebten Beispiele bestätigen, was ich selber glaube: Man konzentriert sich mehr, weil die Situation es erfordert, ganz automatisch, quasi reflexartig. Deshalb ist Dir logischerweise auch nicht bewusst, dass Du unter Stress klarer und aufmerksamer denkst, ja mitunter sogar das Gefühl hast, Dich dann schlechter konzentrieren zu können; aber Du tust es doch - auch wenn es mal einen Augenblick dauert, bis Dein Hirn genügend "hochgefahren" ist.

Corylus, genauso sehe ich das auch! Man verstärkt einfach seine Konzentration weil es nötig ist.

Hier hab ich noch ein Beispiel, welches meiner Ansicht ebenfalls entspricht:

Man stelle einem durchschnittlich intelligenten Werksarbeiter einmal während seines vollen Arbeitseinsatzes in der hektischen und von Maschinenlärm durchdröhnten Atmosphäre de Fabrikhalle, und einmal in der wohligen ruhevollen Atmosphäre seines Wohnzimmers ein paar jeweils gleiche Kopf-Rechenaufgaben unterschiedlichen Schwierigkeitsgrades: Zweifelsohne wird er sie - wenn überhaupt alle! - inmitten seines körperlich voll beanspruchten Einsatzes nur in verhältnismäßig langer Zeit gelöst haben. In der ungestörten und entspannten Umgebung seines Zuhauses aber wird er die korrekten Lösungen der Operationen ohne große Geistesanstrengung zügig vorlegen.

Interessant ist, dass er die gleichen(!) Aufgaben, zuerst in der Ruhe-Situation und danach während seines physischen Stresses gestellt, auch im zweiten Experiment mit deutlich messbarer Verzögerung zu den richtigen Lösungen kommen wird.

Nur noch eine kleine Anmerkung aus geisteswissenschaftlicher Sicht - oder, wie manche Schreiber es nennen: "Esoterik-Kram":

Warum glaubt die Wissenschaft, dass Stress das konzentrierte Denken fördert? - Aus dem gleichen Grunde wie man selbstverständlich weiß, dass das Blut stärker zirkuliert, das Herz schneller schlägt und die Atemfrequenz sich erhöht, wenn man einen steilen Anhang hinaufsteigt: Weil dann der Körper mehr frischen Sauerstoff benötigt und er seinen Bedarf auf diese Weise zu decken versucht. - Mit anderen Worten: Es wird das Denken, welches ein geistiger Prozess ist, einem physischen Vorgang gleichgesetzt, der gleichsam als Folge des Stresses auftreten soll, wie die beschleunigte Herz-Kreislauf-Tätigkeit durch körperlicher Anstrengung.

So wie Physisch-Materielles nur Physisch-Materielles bedingen kann, so das Geistige nur Geistiges. Und welches "Geistige" ist es, das das geistige Konzentrations- und Denkvermögen intensiviert? - Das Ich, das Selbst-Bewusstsein, welches in der Stresssituation bewusst-erlebend gewahrt, dass es nun gefordert ist - und daraufhin seine Denktätigkeit anspornt...

Das kann nicht gut gehen, wenn man das Denken einem physischen Vorgang gleich setzt.

Körperlicher Streß kann nicht Geistiges intensivieren. Das Gegenteil ist der Fall.

Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass man unter körperlichem Stress geistige Aufgaben besser löst.
Das ist Unsinn. Man kann höchstens sportliche LEistungen erzielen, wie schneller laufen oder wie beschrieben Notfallsituationen.

Eben.

Zitat von Corylus im Beitrag #4

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Ich denke, das beruht auf einer Täuschung. Man kann nicht konzentrierter denken, sondern man tut es, einfach weil die Stresssituation es erfordert.

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Danke, Alpenveilchen, das sind besonders markante Beispiele für meine bzw. die anthroposophische Erklärung!

Hier zeigt sich eindeutig die hellwache Gegenwärtigkeit Deines Ichs und Dein liebevoll selbstloses Interesse für die Schicksale der Menschen in kritischen Situationen. Dieses freimütige Dasein- und Helfen-Wollen hat Deine Denkkräfte in den rechten Momenten mobilisiert, da, wo sie gebraucht wurden.

Eine charakterschwache oder eine gleichgültige Schwester mit wenig Sympathie für die Nöte anderer hätte in Deinen Situationen das Handtuch geworfen; denn wären die erforderlichen Gedankenkräfte eine Reaktion auf den Stress, würde sie ohne zu zögern professionell gehandelt haben - unabhängig von ihrem Desinteresse der Arbeit gegenüber.

Auch dass Du, wie Du schreibst, nach der Bewältigung der Situationen "wie ein Taschenmesser zusammengeklappt" bist, zeigt, dass Deine volle Geistesgegenwärtigkeit wirklich gefordert, ja regelrecht herausgefordert worden war - eben, weil Du Dein Denken, Fühlen und Wollen bewusst mit ganzer Hingabe den jeweiligen Situationen gewidmet hattest. Diese völlige Erschöpfung am Ende bzw. nach Bewältigung der Stresssituationen wäre nicht eingetreten, wenn der erhöhte Einsatz Deiner Gedankenkraft eine Reaktion des Körpers wäre; sie wäre einfach schlichtweg wieder "herunterfahren", ohne Spuren eines Zusammenbruchs hinterlassen zu haben..