Der Russe

Ich erinnere mich noch sehr deutlich an die Zeit des Prager Frühlings, der bei uns an der Grenze natürlich ein vielbeachtetes Thema war. Vor allem ist mir der Morgen des 21. August 1968 haften geblieben, den ich als Elfjährige erlebte.

Ich war gewohnt, während der Nachrichten aus dem Radio zu schweigen. In diesen Tagen aber wurde die häusliche "Schweigepflicht" extrem streng gehandhabt. Auch lief das Radio nicht nur morgens und mittags, sondern den ganzen Tag über. Insbesondere Vater und Großvater lauschten atemlos. Wenn sie sich über das Gehörte unterhielten, war immer wieder "der Russe" zu hören. Dabei bekamen ihren Stimmen einen Unterton, den ich nicht einordnen konnte, von dem ich heute aber weiß, dass es tiefe Besorgnis, vielleicht sogar Angst war.

Natürlich wusste ich, was Russen sind, aber DER Russe? Welcher von den Vielen sollte das sein und warum bekamen Papa und Opa bei seiner Erwähnung so einen seltsamen Unterton?

Der Morgen des 21. August brach an und der Himmel spannte sich in tiefstem Blau über den Kirchturm, der mir von meinem Kinderzimmerfenster aus bei jedem Blick daraus ins Auge fiel. Noch waren Ferien. Also, schnell frühstücken, Badesachen und Brotzeit gepackt und auf ins Freibad.

Als ich in die Küche kam, hatte ich sofort das Gefühl, das etwas Schlimmes passiert sein musste. Fünf Erwachsene standen da, meine Eltern, Oma und Opa und unsere Haushälterin, machten ernste Gesichter und sprachen leise miteinander. Und da hörte ich es auch schon: "Der Russe ist an der Grenze."

Vergessen waren Wurstsemmel und Freibad, hier war sie, die Gelegenheit, diesen geheimnisvollen Russen kennenzulernen. Von ihm hatte ich früher schon gehört, immer dann, wenn Opa und Papa, beides ehemalige Wehrmachtssoldaten, vom Krieg sprachen. Oft kam das nicht vor, eigentlich nur, wenn wir Kinder Fragen stellten. Aber wenn das Thema aufkam, dann spielte „der Russe“ immer eine Rolle darin und das war keine gute, das war auch für uns Kinder deutlich zu spüren.

Ich schwang mich auf mein Fahrrad und auf ging es zur Grenze. Damals noch kein gut ausgebauter Grenzübergang, sondern ein vom Gras überwucherter Feldweg mit einem Schlagbaum. Es sah aus, als wäre hier die Welt zu Ende und in gewisser Weise war sie das ja auch, zumindest die freie Welt.

Und was fand ich nun vor? Panzer und Soldaten. Beides vertraute Anblicke. Dass Panzer und Uniformen sich von den mir bekannten amerikanischen unterschieden, fand ich nicht so wichtig. Ich hielt Ausschau nach "dem Russen". Wo war er denn bloß?

Natürlich war ich nicht allein an der Grenze. Andere Kinder und vor allem Erwachsene waren da. Sie schauten bedrückt und unterhielten sich leise. Auch da hörte ich es wieder: "der Russe". Auf einmal wurde mir klar, dass damit das russische Militär gemeint war. Fassungslos stand ich da und meine Enttäuschung war riesig.

Wie groß die Gefahr eines neuen Krieges damals war, darüber machte ich mir keine Gedanken. Aber dass sich meine Erwartungen nicht erfüllt hatten und es den geheimnisvollen Russen gar nicht gab, das machte mir als Kind schwer zu schaffen.

Jahrzehnte später, als der Eiserne Vorhang gefallen war, war in einer tschechischen Zeitung ein Artikel zu lesen, in welchem stand, dass „der Russe“ damals durch die Tschechei durch bis an die Donau marschieren wollte. In deutschen Zeitungen habe ich dazu nichts gelesen.

Auch erst später wurde mir klar, dass meine Heimatstadt und deren Umgebung 45 Jahre lang vom Warschauer Pakt und der Nato intensiv beobachtet worden war, Luftlinie zwischen den beiden Bobachtungsposten jeweils auf einem Berg etwa 50 km.